Die geheime Zahl der Weisheit

Rainhard Steindl

Dezember 1997

Einleitung

Von der Mathematik als exakteste aller Wissenschaften erwartet man sich klare Antworten auf klare Fragen. Bereits der deutsche Philosoph und Mathematiker G. W. Leibnitz [7] brachte zum Ausdruck, was auch heute noch viele Wissen-schafter unterstreichen würden:

[Mathematik ...], eines Gegenstandes, in dessen Bereich die Wahrheit ohne Mühe und ohne umständliche Experimente so sichtbar gemacht werden kann, daß kein Zweifel übrigbleibt. Es offenbart sich so eine gewisse Reihe, sozusagen eine Richtschnur des Denkens, die uns nicht nur des bereits Gefundenen versichert, sondern uns auch einen zweifelsfreien Weg zu künftigen Erkentnissen weist.
Doch schon in den 30er Jahren zeigten die Arbeiten von Gödel, Church, Turing und anderen, daß es auch in der Mathematik Grenzen gibt. Gregory Chaitin konnte sogar zeigen, daß der reine Zufall sogar in der Mathematik zu finden ist.

Computer und Komplexität

Wir benötigen für unsere weiteren Untersuchungen eine formale Definition eines Computers. Ausgehend vom binären Alphabet tex2html_wrap_inline243 definieren wir einen Computer als eine partiell rekursive Funktion

equation13

mit der Einschränkung, daß, wenn C (u, v) definiert ist, und u ein echtes Präfix von u' ist, so ist C (u', v) nicht definiert. Mit anderen Worten, die Wertemenge von C ist präfixfrei. u kann als das Programm und v als die Daten für den Computer C angesehen werden. Ein Computer U ist nun universell, wenn es für jeden Computer C (u, v), der konvergiert, eine Konstante sim (C) gibt, mit

equation18

wobei |v| die Länge eines Wortes v bezeichnet. Die Komplexität eines Wortes tex2html_wrap_inline271 ist definiert als

equation22

wobei tex2html_wrap_inline273 der leere Input ist. Wir schreiben kurz tex2html_wrap_inline275 . Mit anderen Worten, die Komplexität eines Wortes w ist die Länge des kürzesten Programmes, das dieses Wort auf einem Computer mit leerem Input erzeugen kann. Erweitert man nun diese Definition bekommt man die bedingte Komplexität eines Wortes

equation28

d.h. die Länge des kürzesten Programmes, das mit Input t das Wort w erzeugt. Es ist leicht zu sehen, daß

equation33

gilt. Gibt es nun Worte, für die es kein Programm gibt, das wesentlich kürzer ist, als das Wort selbst?

Normalität und Zufälligkeit

Die Sequenz

displaymath38

ist nicht sehr kompliziert, es läßt sich leicht ein kurzes Programm finden. Gibt es aber für diese Sequenz

displaymath40

ein kürzeres Programm? Eine wichtige Voraussetzung für zufällige Sequenzen ist die Normalität. Eine Folge heißt dann und nur dann normal, wenn jede Ziffer und jeder Block beliebiger Länge von solchen Ziffern mit gleicher asymptotischer Häufigkeit vorkommt. So ist zum Beispiel Champerownes Zahl

displaymath43

normal. Aber nach unserer Intuition ist diese Zahl weit davon entfernt zufällig zu sein. Und tatsächlich, die Normalität einer Zahl oder einer Sequenz garantiert noch nicht deren Zufälligkeit. So gibt es für die Erzeugung von tex2html_wrap_inline283 (die Normalität von tex2html_wrap_inline283 ist zwar nicht bewiesen, doch wird dies allgemein anerkannt) gibt es mehrere Formeln (d.h. Programme).

Kehren wir wieder zu unserem binären Alphabet tex2html_wrap_inline287 zurück. Für endliche Worte über diesem Alphabet ist Zufälligkeit nicht genau definierbar, ein Ansatz ist jedoch folgender: Ein Wort w mit Länge i ist zufällig, wenn tex2html_wrap_inline293 . Kann man nun abschätzen wieviele zufällige Worte es gibt? Nehmen wir an, daß jedes Wort von V mit Länge < i - 20 ein Programm ist, das ein Wort der Länge i beschreibt. Es gibt nun

displaymath46

Worte der Länge < i - 20. Das Verhältnis von tex2html_wrap_inline303 und tex2html_wrap_inline305 beträgt ungefähr tex2html_wrap_inline307 . Mit anderen Worten, erzeugt man ein Wort über dem Alphabet V durch Münzenwürfe, so ist die Wahrscheinlichkeit größer als 0.999999, daß das Wort zufällig ist!

Jetzt kann es ja demnach auch nicht schwer sein, die Zufälligkeit einer Zahl zu beweisen, wenn es soviel davon gibt. Das erweist sich jedoch als unmöglich. Genauer gesagt, jedes formale System T, das sich mit einem Wort der Länge n beschreiben laßt, kann nur endlich viele Zahlen (mit Länge < n) als zufällig identifizieren. Der Beweis ist indirekt. Angenommen wir können die Zufälligkeit eines Wortes w mit tex2html_wrap_inline321 beweisen. Dann kann man einen Computer C entwerfen, der alle Beweise von T durchgeht, bis er auf den richtigen Beweis stößt. Die Beschreibung von C ist ungefähr n Bits lang, und wir haben daher ein Programm der Länge n gefunden, das w beschreiben kann ... ein Widerspruch zu der Annahme, daß w zufällig ist. Dieser Widerspruch ist mit dem Berry Paradoxon vergleichbar [2]:

Finde die erste positive Zahl, die nicht in weniger als einer Million Worten beschrieben werden kann
Die Zufälligkeit einer unendlichen Sequenz B von Ziffern kann im Gegensatz zu endlichen Worten genauer definiert werden. Ist tex2html_wrap_inline339 ein Präfix der Länge i, dann ist die Folge B zufällig, wenn es eine Konstante A gibt, sodaß für alle i

equation63

gilt. Aus der obigen Definition folgt nun für Minimalprogramme:

, die Zahl der Weisheit

Wir definieren nun die Wahrscheinlichkeit eines Wortes tex2html_wrap_inline271 (bezüglich eines Computers C) als

equation71

d.h. es wird die Länge aller Programme, die w berechnen berücksichtigt. Wir schreiben wieder kurz tex2html_wrap_inline355 . Mit anderen Worten, diese Zahl gibt uns die Wahrscheinlichkeit, daß ein zufällig ausgewähltes Programm u auf dem Computer C das Wort w erzeugt. Aufgrund der Präfix-Freiheit der Wertemenge von C läßt sich zeigen, daß tex2html_wrap_inline365 gilt (für den Beweis siehe [11]). Analog zu der Definition der bedingten Komplexität definieren wir

equation80

als bedingte Wahrscheinlichkeit. Intuitiv ist das also die Wahrscheinlichkeit, daß bei gegebenen Input t ein zufällig gewähltes Programm w erzeugt. Erweitert man nun diese Definition kommt man zu der Anhaltewahrscheinlichlkeit des universellen Computers U

equation86

Diese Zahl gibt also an, wie groß die Wahrscheinlichkeit für ein zufällig gewähltes Programm ist, auf einem universellen Computer anzuhalten.

Eigenschaften von

Sei nun tex2html_wrap_inline375 die binäre Darstellung von tex2html_wrap_inline349 (die tex2html_wrap_inline379 heißen auch Magic Bits), so definieren wir die rationale Zahl tex2html_wrap_inline381 Betrachten wir nun eine total rekursive Injektion g auf die Wertemenge von tex2html_wrap_inline385 . g liefert uns also eine Aufzählung aller möglichen Programme. Wir können nun so eine Annäherung an tex2html_wrap_inline349 definieren

equation103

Es ist leicht zu sehen, daß die Folge tex2html_wrap_inline391 monoton steigend ist und gegen tex2html_wrap_inline349 konvergiert. Der Unterschied zur Definition von tex2html_wrap_inline349 ist der, daß wir hier die einzelnen Programme u mit tex2html_wrap_inline399 (z.B. ihrer Länge nach) beschriftet haben.

Theorem 1: Gilt tex2html_wrap_inline401 , so gilt

displaymath113


Der Beweis ergibt sich aus der Ungleichung

displaymath119

tex2html_wrap_inline403

Theorem 2: Wissen wir für ein beliebiges i die ersten i Bits von tex2html_wrap_inline349 , können wir das Halteproblem für alle Programme mit Länge < i entscheiden.

Beweis: Angenommen also wir kennen tex2html_wrap_inline413 , dann können wir die Zahlen tex2html_wrap_inline415 berechnen, bis wir ein n gefunden haben, sodaß tex2html_wrap_inline401 gilt.

Sei tex2html_wrap_inline421 nun ein Wort der Länge tex2html_wrap_inline423 über V. Die Behauptung ist nun: Ist tex2html_wrap_inline427 definiert tex2html_wrap_inline429 tex2html_wrap_inline421 ist eines der Wörter aus tex2html_wrap_inline433 . Der tex2html_wrap_inline435 Teil ist klar. Für den tex2html_wrap_inline437 Teil gehen wir vom Gegenteil aus: Sei tex2html_wrap_inline439 , mit m > n. Daraus ergibt sich aber ein Widerspruch:

displaymath137

tex2html_wrap_inline403

Eine erstaunliche Eigenschaft - wenn unser i für das tex2html_wrap_inline413 groß genug ist, könnten hätten wir ein eindeutiges Verfahren, um bisher ungelöste Fragen der Mathematik zu entscheiden (diese Fragen müssen sich aber in einer Länge von tex2html_wrap_inline449 darstellen), z.B.:

Diese Eigenschaft mag nun von theoretischem Wert sein, von praktischen Wert ist sie jedoch nicht, worauf Chaitin anläßlich eines Vortrages [4] selbst hinwies. Selbst wenn wir tex2html_wrap_inline413 kennen würden, müßten wir die Busy Beaver Funktion [1] von i berechnen! Die Busy Beaver Funktion tex2html_wrap_inline459 ist die maximale Anzahl von 1, die eine Turingmaschine mit n Zuständen auf das Band schreiben kann, bevor sie anhält. Die Werte für tex2html_wrap_inline465 sind bekannt, für weitere Werte kennt man bestenfalls untere Schranken (z.B.: tex2html_wrap_inline467 ). Die Funktion ist nicht berechenbar [8].

Chaitin selbst entwarf ein Lisp Programm für die Berechnung von tex2html_wrap_inline469 [4]. Kann man nun ein Verfahren finden, daß uns ohne viel Berechnungsaufwand tex2html_wrap_inline413 vielleicht sogar tex2html_wrap_inline349 berechnen kann? - Nein:

Theorem 3: Die Folge tex2html_wrap_inline413 ist zufällig.

Beweis: Aus dem Beweis von Theorem 2 ergibt sich

equation162

d.h. hat ein Wort w die Komplexität tex2html_wrap_inline479 , dann hat das dem w zugeordnete Programm höchstens die Länge i. Weiters betrachten wir die Funktion tex2html_wrap_inline485 , die für ein gegebenes tex2html_wrap_inline487 das kleinste m findet, sodaß

displaymath169

gilt. Ist so ein m gefunden, so ist f(x) das erste Wort, das nicht mehr zu der Menge

displaymath176

gehört. Sei C der Computer, definiert durch tex2html_wrap_inline497 , nun gilt

tex2html_wrap_inline499
Nach (11) ist aber tex2html_wrap_inline501 , daher ist

equation188

d.h. tex2html_wrap_inline349 ist zufällig. tex2html_wrap_inline403

Der Zufall in der Mathematik

Weiters konstruierte Chaitin eine exponentielle, diophantische Gleichung

equation194

mit einem Parameter k, tex2html_wrap_inline509 , bestehend aus 17000 Variablen. Eine exponentielle diophantische Gleichung erlaubt im Gegensatz zu einer herkömm-lichen diophantischen Gleichung ganzzahlige Variable auch im Exponenten.

Diese so konstruierte Gleichung hat folgende Eigenschaft: Die k-te Gleichung hat unendliche viele Lösungen, dann und nur dann, wenn das k-te Bit von tex2html_wrap_inline511 ist, ansonsten hat sie nur endlich viele Lösungen. Hier sieht man nun deutlich die Unlösbarkeit von Hilberts zehntem Problem: Aus (12) ergibt sich, daß es kein Programm mit Länge tex2html_wrap_inline513 , das uns sagt, ob die k-te diophantische Gleichung endlich oder unendlich viele Lösungen hat. Es ist völlig gleichgültig, für wieviele k wir diese Frage entschieden haben, dieses Wissen nützt uns gar nichts für die Beantwortung der restlichen n > k. Wir können uns also die Mühe sparen und eine Münze werfen!

Folgerungen

Nachdem wir nun gesehen haben, daß selbst in der Mathematik Zufall herrscht, was bedeutet dies nun für die Mathematik, für die Wissenschaft? Chaitin selbst erwähnt den von Brouwer gegründeten Anschauung einer konstruktivistischen Mathematik [6], die durch seine eigenen Ergebnisse neuen Auftrieb bekommen könnte. Schon heute, gerade mit Hilfe des Computers, wird Mathematik zu einem hohen Maße experimentell betrieben (ganz im Gegensatz zu Leibnitz Zitat aus der Einleitung). Das würde auch den alten Streit beilegen, ob Mathematik eine Naturwissenschaft ist, d.h. Methoden von Theorie und Experiment benötigt. Auch Chaitin schlägt nun vor, Mathematik wie eine Naturwissenschaft zu be-treiben: Mit Experimenten, unbewiesene Annahmen anwenden, wenn sie brauch-bar sind. Schließlich fragt Chaitin [5]

Is there a physical phenomenon that computes something noncomputable? Contrariwise, does Turing's thesis that anything computable can be computed by a Turing machine constrain the physical universe we are in?
Roger Penrose etwa behauptet, daß Turingmaschinen (und somit die heute denkbaren Computer) nicht in der Lage sind, menschliche Intelligenz zu erreichen ([9], [10]).

Literatur

1
Brady, Allen, H:: The Busy Beaver Game and the Meaning of Life, in The Universal Turing Machine, A Half-Century Survey, R. Herken (ed), Verlag Kammerer & Unverzagt
2
Chaitin, Gregory J.: The Berry Paradox, Complexity 1, 1(1995), pp. 26 - 30
3
Chaitin, Gregory J.: Algorithmic Information Theory, Cambridge University Press, 1987
4
Chaitin, Gregory J.: An Invitation to Algorithmic Information Theory, DMTCS'96 Proceedings, Springer Verlag Singapore, 1997, pp. 1-23
5
Chaitin, Gregory J.: Gödels Theorem and Information, International Journal of Theoretical Physics 22 (1982), pp. 941-954
6
Stolzenberg, Gabriel: Kann die Untersuchung der Grundlagen der Mathematik uns etwas über das Denken verraten?, in Die erfundene Wirklichkeit, Paul Watzlawick (Hg), R. Piper &Co. Verlag, München 1981
7
Leibnitz, Gottfried Wilhelm. Die Elemente der Vernunft, in: Leibnitz, Hrsg.: Th. Leinkauf, Eugen Diedrichs Verlag, München 1996
8
N.N.: Handout to the Busy Beaver Problem, Handout for CS 360 - Introduction to the Theory of Computing, Winter 1997, University of Waterloo
9
Penrose, Roger: Computerdenken, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg
10
Penrose, Roger: Der Schatten des Geistes, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, 1995
11
Rozenberg, Grzegorz, Salomaa, Arto: The Secret Number in Cornerstones of Undecidability, pp. 161-188, Rozenberg, Grzegorz, Salomaa, Arto (Hg), Prentice Hall 1994

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